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IG Metall Region Hamburg-Forum - Industrie_4.0_2013_04

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Industrie 4.0 und deren Auswirkung auf die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen

Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ist auf die Erforschung, Entwicklung und Fertigung von Produktionstechnologien spezialisiert. So heißt es in einer Mitteilung vom 08.04.2013 des Verbandes deutscher Maschinen- und Anlagenbauer e.V., dass neue Technologien und Innovationen zu einem weiteren Wachstum im deutschen Maschinenbau geführt haben.
Während in den meisten klassischen Industrieländern ein Trend zur De-Industriealisierung zu verzeichnen war, hat Deutschland konsequent auf seine industrielle Produktionsstärke und innovative Produktionstechnologien gesetzt.

In diesem Zusammenhang kommt dem Maschinen- und Anlagenbau eine große Bedeutung zu. Mit einem Umsatz von rund 200 Mrd. Euro und ca. 931.000 Beschäftigten ist der Maschinen- und Anlagenbau ein wesentliches Element der deutschen Wirtschaft.

Vor diesem Hintergrund ist nun die Entwicklung zur Industrie 4.0 zu sehen, wobei das „Internet der Dinge und Dienste“ sehr eng damit verwoben ist. Nicht nur die Produktion hat sich kontinuierlich verändert, auch das Internet hat in den zurückliegenden 20 Jahren die Welt erobert und über die Kommunikationstechnologie eine weltweite Vernetzung ermöglicht.

Historisch hat sich dies wie folgt entwickelt:

Aus manuell geführten Elektrowerkzeugen (30iger Jahre) wurden schablonen­geführte Nibbelmaschinen (50iger Jahre), die wiederum zu NC-gesteuerten Bearbeitungsmaschinen (70iger Jahre) weiterentwickelt wurden, bis hin zur offenen Steuerung von kompletten Fertigungsautomaten (90iger Jahre).

Heute ist daraus ein komplexes Fertigungssystem geworden, dass mit einer Verkopplung mit dem Internet neue Möglichkeiten bieten.

Quelle: Bauer, 2013, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG

Die Kommunikationstechnik über das Internet hat sich ständig weiter­entwickelt. Smartphone, Tablet-PC und die Systemübergreifende Ablage in Cloud Computing haben nicht nur zur ständigen überregionalen Erreichbarkeit geführt, sondern auch zu übergreifenden interaktiven Steuerungs­möglich­keiten. Das Internet greift damit in alle Lebensbereiche und auch in die industrielle Fertigung ein.

Quelle: Bauer, 2013, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG

Die Auswirkung auf unser tägliches Leben, die radikalen Marktveränderungen und die dynamischen Anpassungen unserer sozialen Strukturen beginnen wir gerade erst zu verstehen, da bahnt sich schon die nächste technologische Umwälzung an: das Internet der Dinge und Dienste.

Quelle: Bauer, 2013, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG

Die neue, fast unbegrenzte Erreichbarkeit und Eingriffsmöglichkeit in Produktions- und Dienstleistungsprozesse eröffnet neue Beteiligungsformen. Abläufe können in Echtzeit gesteuert, angepasst und verändert werden. Kooperationen und teamübergreifende Abstimmung erfordert schnelles und eigenverantwortliches Handeln. In der Systemsprache wird dieses echtzeit­orientierte Mensch-Maschine-Systeminteraktion genannt.

Dr. Constanze Kurz vom IG Metall Vorstand stellt dazu fest: „Den Beschäftigten eröffnen sich mit der Industrie 4.0 neue, interessante Arbeits­zu­sammenhänge, die mit wachsender Eigenverantwortung, vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten für kreatives Arbeitshandeln und einer Steigerung der Arbeits-, Kooperations-, und Beteiligungsqualität einhergehe.“ (Ampere – Das Magazin der Elektroindustrie 1/2013 S. 32)

Sie weist aber auch darauf hin, dass dieses die optimistische Variante ist. Nach der pessimistischen Variante würde die Arbeit standardisiert und in kleine Einzelsegmente zerlegt werden. Industrie 4.0 ist also nicht per se beschäftigtenfreundlich, sondern muss nach den Interessen der Arbeitnehmer/-innen gestaltet werden. Das gilt auch für neue Möglichkeit der Wertschöpfung, bei der aus den bisher üblichen Wertschöpfungsketten Wertschöpfungsnetze werden.

Quelle: Bauer, 2013, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG

Was bedeutet dieses Internet der Dinge und Dienste?
Aus bisher geschlossenen Systemen werden autonome Systeme, die umfassende Daten über ihr Umfeld erfassen und in vielfältiger Weise interaktiv darauf reagieren können. Werden diese Systeme drahtlos untereinander und mit den Daten und Diensten des Internets vernetzt, entsteht das Internet der Dinge und Dienste.
Wie können zukünftig selbststeuernde Produkte auf unvorhergesehene Störungen kurzfristig reagieren?
  • Sie wählen sich eigenständig einen neuen Kundenauftrag aus, den sie abdecken können, wenn ihr bisheriger Kundenauftrag storniert wurde.
  • Sollte eine Montagestation ausfallen, ändern die Produkte selbständig ihre Route und ziehen einen anderen Montageschritt vor oder wählen eine alternative Montagestation. (Vgl. Ampere – Das Magazin der Elektroindustrie 1/2013 S. 22)

Diese Beispiele konkretisieren auch, was in den Wertschöpfungsketten geschieht. Sie wählen sich die Produkte aus ihrer Route selbst aus und ziehen andere Montageschritte vor usw. Folglich muss sich auch die Wertschöpfung daran ausrichten.

Was bedeutet dieses für die Beschäftigten und für die berufliche Ausbildung?
Durch die oben beschriebene interaktive Rückmeldung der Systeme untereinander und auch der Möglichkeit, dass Kunden netzbasiert Rückmeldungen an die Produktion und die Dienstleistung geben können, werden sich die Arbeitstätigkeiten und die dafür notwendige berufliche Handlungsfähigkeit verändern.

Das drückt sich einmal in der Schaffung neuer Formen der Zusammenarbeit aus.

  • Übergreifende Qualifikationen werden nötig sein, damit vernetzt geplant und gearbeitet werden kann. Für die berufliche Aus- und Weiterbildung heißt das, das eine konsequente Weiterentwicklung der prozessorientierten Qualifikation notwendig wird, die auch einen Blick über die eigene Beruflichkeit hinaus ermöglicht.
  • Beratungskompetenz wird einen weit größeren Raum als bisher in den beruflichen Tätigkeiten ausmachen, da der Eingriff in die Produktionsabläufe schnell und mit weitreichenden Konsequenzen erfolgen kann. Interaktive Einflussmöglichkeiten auch von Kunden und damit zum Teil von „Fachlichen Laien“ erfordert eine angemessene, fachlich korrekte und zielorientierte Beratung.
  • Die Arbeitsorganisation wird noch mehr Teamarbeit als bisher notwendig machen, d.h. die Beziehung der Beschäftigten untereinander und damit die Berufe übergreifende Zusammenarbeit wird eine größere Bedeutung einnehmen.
  • Die Arbeitszeit und –organisation wird eigenständig geplant werden müssen und erfordert hohe Selbstverantwortung und Selbständigkeit.
Die dafür erforderliche gleichberechtigte Beziehung der Mitarbeiter/-innen untereinander geht einher mit Veränderungen im Gefüge der Weisungsbefugnis, aber auch mit einem erhöhten Bedarf an übergreifenden Arbeitsbeziehungen und der Auflösung funktioneller Arbeitsteilung.

Quelle: Bauer, 2013, TRUMPF Werkzeugmaschinen GmbH + Co. KG

Die stärker vernetzte Welt, stellt darüber hinaus auch noch andere und neue Anforderungen an die Menschen und deren Arbeitsvermögen. Das gilt für die kreativen Planungsprozesse ebenso, wie für die operative Arbeit beispielsweise in Produktion, Logistik und Bürowirtschaft.

Die stärker vernetzte Welt bietet aber auch die Möglichkeit nur auf die Technik abzuheben und dabei den Menschen zu vergessen. So ist dem IG Metall-Vize zu zustimmen, wenn er sagt: „Wer an extremer Zergliederung von Arbeit festhält, wer Beschäftigte nicht systematisch qualifiziert, verschenkt Potentiale.“

Wer diese Potentiale verschenkt, der gefährdet darüber hinaus das soziale Gefüge der Bundesrepublik, da er die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer dieser industriellen Weiterentwicklung unterteilt und die vorhandene Kluft weiter vergrößert. Es kommt also darauf an, dass wir diese industrielle Weiterentwicklung konkret mitgestalten und die Gefahren verhindern.

Forschung und konkrete Umsetzung sollte von interdisziplinären Teams bearbeitet und durchgeführt werden, wobei Produktionstechnologien ebenso eine Rolle spielen wie Softwarearchitektur, lernförderliche Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation.

Gerade wenn das Lernen in der Arbeit gefördert werden soll, ist es erforderlich, den Arbeitsdruck, der durch die Technologien noch gesteigert wird, für die Lernphasen herauszunehmen. Denn letztlich zeigt sich, wenn die Beschäftigten im Zentrum stehen und in reale Abläufe aktiv und damit mit systemseitig und kontextabhängig eingreifen können, liefert diese Entwicklung einen wirklichen Mehrwert. Die neuen Arbeitsabläufe lassen vermuten, dass sie interdisziplinär verlaufen werden.

Ein interdisziplinäres Team sollte neben Fachkräften unterschiedlicher Fachrichtungen auch Unterstützung von Psychologen, Berufspädagogen, Ergonomen, Sozial- und Arbeitswissenschaftlern sowie Medizinern erfahren, damit die Arbeit ganzheitlich betrachtet und organisiert werden kann. Gerade die Entgrenzung von Fachlichkeit, von Arbeit- und Privatleben, ist eine neue übergreifende, ganzheitliche Herausforderung der man sich stellen muss.

Neue Arbeitsformen müssen gewährleisten zielorientiert und anforderungsgerecht zusammenzuarbeiten, damit die Arbeitsumwelt und die Arbeitsinhalte angemessen gestaltet und umgesetzt werden können.

Industrie 4.0 bietet die Chance, den arbeitenden Menschen über lernförderliche und sozial durchlässige Arbeitsorganisationskonzepte den Zugang zu den neuen Anforderungen zu ermöglichen. Dies bedeutet aber zugleich, dass es sowohl in der Arbeitszeitgestaltung als auch in der Gestaltung der beruflichen Erstausbildung, der Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen Eingang finden sollte.

Hierfür ist es erforderlich Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein berufsübergreifendes und interdisziplinäres Lernen und Arbeiten ermöglichen. Dies gilt auch und speziell für die Duale Berufsbildung und damit für die Ausbildungsgestaltung in Betrieb und Berufsschule.

Fazit: Mit der Industrie 4.0 wird Arbeiten in einem sich ständig verändernden Arbeitsumfeld mit immer komplexeren Werkzeugen und Assistenzsystemen notwendig. Dieses führt zu hohen Anforderungen an Fähigkeiten, Wissen sowie an das Arbeitsvermögen der Beschäftigten, dem die Lern- und Arbeitsbedingungen Rechnung tragen müssen.

Das stellt auch neue Herausforderungen an das Aus- und Weiterbildungs­personal. Diese sind aufgefordert, sich mit den genannten Themen zu beschäftigen und daraus berufspädagogische Konzepte zu entwickeln und der Interdisziplinarität Rechnung zu tragen.

Was bedeutet das für die berufliche Rehabilitation?
Für die berufliche Rehabilitation, die eine spätere umfassende Teilhabe am Arbeitsleben sicherstellen soll, sind die vorgenannten Aspekte ebenso zu berücksichtigen. Wenn davon ausgegangen wird, dass Menschen mit Behinderungen Einschränkungen im kognitiven Bereich haben, ist es aus berufspädagogischer Sicht geboten, auf diese Einschränkung einzugehen und diese bei der Gestaltung der Aus- und Weiterbildung zu berücksichtigten. Der Umgang mit der zum Teil unbekannten und abstrakten Welt des Internets – und jetzt in Form von Industrie 4.0 (der Dinge und der Dienste)- sollte über positive Lernerfahrungen und praktischem Handeln erprobt und erlernt werden.

Gerade Menschen, die durch eine Behinderung abrupt aus dem Arbeitsleben ausscheiden mussten, verfügen über vielfältige Erfahrungen, bei denen die neuen Technologien im Arbeits- und Lernprozess unterstützend wirksam werden können.

Menschen mit Behinderungen haben in der Regel im Rahmen der medizinischen Rehabilitation viele Beratungen und Therapien durchlaufen, die ihr Handeln und Tun prägen. Diese Erfahrungen und den beruflichen Hintergrund in die Vermittlung von abstrakten und neuen Inhalten einzubauen und die Erfahrungen zu Nutzen, kann ein wichtiger Ansatz sein, Lernblockaden und –hemmnisse zu überwinden. Vermeintlich kognitive Einschränkungen können durch positive Erfahrungen überwunden werden.

Die neuen Arbeitsanforderungen stellen auch große Anforderungen an die Flexibilität und die Lernfähigkeiten der Arbeitnehmer/-innen. Hier bietet die Arbeitsprozess- und Handlungsorientierung in der Ausbildung vielmehr Möglichkeiten als ein Verfahren der reinen Wissensvermittlung. Es geht schon lange nicht mehr um Wissensakkumulation oder dem Abrufen von statischem Wissen, sondern um ein anwendungsbezogenes erweiterndes Handlungs­wissen.

Wie alle neuen Technologien und Arbeitssysteme bietet auch Industrie 4.0 Chancen und Gefahren, diese sind bei der Konzeption von Ausbildung zu berücksichtigen bzw. die unterschiedlichen Interessen und Gestaltungsoptionen zu verdeutlichen, in denen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer befinden, in dem das Selbstbewusstsein und die Reflektion der Arbeitsprozesse durch die Arbeitenden gestärkt werden.

Die Chance, Ausbildung flexibel und auftragsorientiert zu gestalten und damit den Lernweg und das Ausbildungsziel zu individualisieren, geht einher mit der Gefahr, dass eine Ausbildung als unstrukturiert empfunden wird. Gerade Menschen mit psychischen Einschränkungen und Behinderungen benötigen aber eine klare Struktur, damit sie nicht in alte Gefährdungen zurückfallen.

Da aber in der Industrie 4.0 völlig andere Strukturmerkmale eine Rolle spielen, als wir sie bisher in einer klar abgegrenzten Abteilungs-, Fertigungs- und Dienstleistungsstruktur gewöhnt waren, ist es erforderlich, diese Struktur auch und gerade neu zu vermitteln. Hierzu bedarf es einer angemessen und empathischen Beratung, die Anforderungen und Kritik der Menschen angemessen berücksichtigt und in die neuen Strukturanforderungen überführt. Für die Ausbildungsplanung bedeutet dies, die Inhalte noch stärker an die Lernentwicklung und Potenziale der Rehabilitanden anzupassen.

Als Beispiel können die veränderten Wertschöpfungsprozesse im kaufmännischen Bereich gelten. Da die Veränderungen in einer interaktiven Welt schnell abgewickelt werden, müssen neue Kalkulationsschemata entwickelt werden, die eine Abrechnung von interaktiven Produktionen und Dienstleistungen ermöglichen. Hier kann auf dem Bestehenden aufgebaut und an das Neue angeknüpft werden. Beispielsweise müssen Prozesse unterschiedlichster Art kaufmännisch erfasst und abgewickelt werden. E-Commerce und andere elektronische Abrechnungssysteme müssen daher originärer Bestandteil einer Ausbildung werden, unabhängig ob im technischen oder kaufmännischen Bereich. Hier die Strukturmerkmale der „alten“ kaufmännischen Grundregeln zu Nutzen, um sie in das „Neue“ zu überführen, ist die „Kunst“ der Vermittlung.

Das stellt sehr hohe Anforderungen an das Einfühlungsvermögen des Ausbildungspersonals, um auf mögliche Überforderungen angemessen reagieren zu können. Die Rolle des Beraters tritt gegenüber dem Vermittler immer mehr in den Vordergrund.

Die berufliche Rehabilitation in enger Zusammenarbeit und in Abstimmung mit Unternehmen zu organisieren, für Beratung im Rahmen der betrieblichen Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Verfügung zu stehen, wird eine Herausforderung für die Berufsförderungswerke und anderer außerbetriebliche Ausbildungs­stätten sein. Es gilt sich kritisch der Herausforderung zu stellen, sich mit den Veränderungen in der Produktion und Dienstleistung auseinander zu setzen und daraus Impulse für die Gestaltung der eigenen Ausbildung abzuleiten, um sie zukunftsfähig zu machen.

Die Wirtschaft benötigt auch weiterhin im hohen Maße Fachkräfte gerade und speziell auf der sog. mittleren Qualifikationsebene, nämlich der Fachkräfte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Die Zahl der zu rehabilitierenden Menschen wird nach statistischen Angaben ebenfalls über eine gewisse Zeit noch steigen und dann eine stabile Größe einnehmen. Diese Menschen wieder in das Arbeitsleben zu integrieren ist und bleibt eine soziale Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.