Wenn die Mittelschicht die in diesem Land die Mehrheit stellt, sich ihrer Macht bewusst wäre, könnte sie die Politik in der Bundesrepublik entscheidend verändern. Tut sie aber nicht. Aus unterschiedlichen Gründen. Weswegen eben die Inhaber des Kapitals an den Stellschrauben drehen. Das sind die Kernaussagen der Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann, die vom "Selbstbetrug der Mittelschicht" spricht.
Der Abstieg der Mittelschicht lasse sich tatsächlich nachweisen. Binnen zehn Jahren sei ihr Anteil von 64 auf 58 Prozent gesunken. Ein Grund: "Selbst im Boom stiegen die Reallöhne nicht mehr an", sagt Herrmann, dies sei einzigartig in Europa. Dies nennt sie politsch bedrohlich.
Laut Herrmann besitze ein Prozent der Bevölkerung 23 Prozent des Vermögens, zehn Prozent der Menschen fast zwei Drittel des Volksvermögens.
Statt das die Mittelschicht erkennt, dass sie in einem Verteilungskampf steckt, treffe sie bei Wahlen Entscheidungen zu ihren eigenen Ungunsten. "Schröders Steuergeschenke an die Reichen" mit der Senkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent, die 60 Milliarden Euro im Jahr gekostet hätten, zählt sie dazu.
Doch warum ist das so?
Laut Herrmann schaffe es die Lobbyarbeit, der Mittelschicht das Gefühl zu vermitteln, zur Elite zu gehören, weswegen sie die Unterschicht verachte. Deswegen auch Kürzungen bei Hartz IV. Und sie vermittle das Gefühl, unmittelbar selbst vor dem Reichtum zu sitzen. "Die meisten Deutschen sind so sehr damit beschäftigt, sich für reich zu halten, dass sie nicht merken, dass sie es gar nicht sind" sagt Herrmann.
Doch wirklicher Reichtum spiele sich in der Anonymität ab: Wie groß das Vermögen der Reichen wirklich ist, weiß keiner, argumentiert Herrmann. Die Mittelschicht dagegen setze nicht auf Umverteilung, sondern den individuellen Aufstieg: "Doch Deutschland ist eine Klassengesellschaft." Und die Mittelschicht betrüge sich selbst.
Als Beispiel dient Herrmann die Finanzkrise: "Der Staat schützt diesen Reichtum", kommentiert sie die Rettungsschirme. Die Vermögenden lassen es sich bezahlen, dass ihr Vermögen gerettet wird. Fur Herrmann ein "doppeltes Geschäft".
Ihre Forderung: Die Mittelschicht müsse sich politisch umorientieren und sich in Umfragen äußern. Das habe Effekte, wie sie sich im schnellen Atomausstieg und der Frauenquote der CSU gezeigt hätten.
Doch wie soll das in der Praxis funktionieren? Solche Fragen warfen die Gewerkschafter in der kämpferischen Diskussion auf, in der es im Wesentlichen darum ging, dass Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer zu stärken, um Wahlen beeinflussen zu können.
Und die Gesellschaft: Ein Sachs-Gewerkschafter machte deutlich, dass auch Gewerkschafter Reichtum nicht in Geld messen sollten, sondern in dem "für was wir leben sollen".
Quelle: MainPost